MUSIK20
Mit der von Prof. Alicja Mounk konzipierten Reihe musik20 brach das Kulturprogramm
musikalisch auf ins neue Jahrhundert. In 15 Konzerten und an vier Portrait-Tagen
vom 9. Juni bis zum 26. Oktober 2000 mit insgesamt 30 speziell für
den Deutschen Pavillon geschriebenen Uraufführungen wurde das äußerst
vielfältige Musikschaffen Deutschlands im 20. und 21. Jahrhundert
in seinen gesellschaftlich relevanten Möglichkeiten zwischen historischer
Reflexion, Intensivierung der Gegenwart und dem Vermögen der Veränderung
gezeigt. musik20 blickte zurück auf die moderne Musik in Deutschland,
bestimmte ihre gegenwärtige Position und hielt Ausblick auf ein neues,
gerade beginnendes Jahrhundert. Klänge, Worte, Gesten und Bildliches
sind in der neuen Musik keine voneinander getrennten Bereiche mehr. So
entstanden primär Kompositionen, die mit dem Vokabular anderer Kunstgattungen
experimentierten. Die Konzertprogramme akzentuierten in kammermusikalischer
Besetzung und in spezifischer Raum- wie Lichtgestaltung verschiedene ästhetische
und politische Themen. Dabei erfuhr das Verhältnis von Klang und Raum
besondere Berücksichtigung und eröffnete manch ungewöhnliches
Hörerlebnis:
- Prometheus
am 9. Juni 2000
Von dem von Franz Kafka als Fragment belassenem Prosatext “Blieb das
unerklärliche Felsgebirge ...”, das später von Max Brod mit „Prometheus“
betitelt wurde, ließen sich Younghi Pagh-Paan, Hans-Jürgen von
Bose, Peter Michael Hamel und Nicolaus Richter de Vroe inspirieren. Sie
schrieben nach diesem Vergänglichkeit und Dauer, Erklärung und
Unerklärliches behandelnden Text neue Werke, die in ganz unterschiedlicher
Weise den Mythos des Prometheus in seiner Polarität als Ur-Bild für
künstlerische und technische Schöpfung und zugleich als Revolte
thematisierten.
Die Kompositionen von Theo Brandmüller, Claude Lefebvre
und Marcel Wengler für
- Luzifer
am 25. September 2000
standen im Kontext zu “Prometheus”. Analog zu diesem hat “Luzifer”
als Lichtbringer auch aufklärerisch-emanzipatorisches Potenzial, obwohl
er teuflische Züge trägt. Eine Ambivalenz, die diese schillernde
Figur so spannend und modern macht und sie wie geschaffen erscheinen ließ
für die vielschichtige Kunst, die im Deutschen Pavillon zu erleben
war.
Unter dem Aspekt wie subtil zeitgenössisches Musikschaffen auf
Politik und gesellschaftliche Umbrüche reagiert, wie es geschichtliche
Veränderungen aufgreift, und im Hinblick auf das sich stets diffizil-differenziert
erweisende Verhältnis des Künstlers zur Heimat Deutschland erteilte
Alicja Mounk - neben den Aufträgen an Komponisten aus den alten Bundesländern
- zahlreiche Aufträge an junge wie auch arrivierte Komponisten aus
den neuen Ländern. Deren Arbeit umkreiste die sich nur langsam schließende
Bruchstelle des ehemals geteilten Deutschlands. Darüber hinaus entwarf
Alicja Mounk Programme mit wichtigen Werken des 20. Jahrhunderts, die Ausdruck
geistiger Freiheit und auch Teil nationaler Identität der Komponisten
waren:
-Winterreise I
“Im traurigen Monat November war’s ...”
am 17. Juni 2000
- Winterreise II
“Und denk ich des Liedes ...”
am 11. August 2000
- Winterreise III
“Laß mich das künftige Deutschland sehn ...”
am 25. August 2000
Das dreiteilige Projekt folgte den Spuren von Wilhelm Müllers
und Franz Schuberts Gedicht- und Liederzyklus „Winterreise“. Den Abenden
vorangestellt war die Rezitation von Heinrich Heines im Pariser Exil entstandenen
Gedichts “Deutschland – ein Wintermärchen”, in der Interpretation
von Martha Mödl. Thematisiert wurde hier das Verhältnis des Künstlers
zu Deutschland als politischer, geistiger oder emotionaler Heimat: Einsamkeit
und Unbehaustheit in einer erstarrten Gesellschaft, Bitterkeit, Enttäuschung
und Trostlosigkeit angesichts politischer Realität, der Kampf gegen
einen einseitigen Umgang mit Traditionen und das Verständnis von Geschichte
als dialektischer Prozeß von Bewahren und Verändern zu verstehen,
fokussieren die Werke von Reiner Bredemeyer, Hanns Eisler und Hans Zender.
Die Neukompositionen von Juliane Klein, Jörn Arnecke, Jan Dvorak und
Sascha Lino Lemke vervollständigten die Bandbreite. Sie beschrieben
die Fremdheit des Individuums gegenüber den Normen der Gesellschaft.
Auf ästhetischer Ebene spiegelte sich die komplexe Wandlung der Vorstellung
von Heimat und Identität.
- BauLand
“Berliner Grube”
am 19. Juni 2000
Die Berliner Komponisten Georg Katzer, Jakob Ullmann und Franz Martin
Olbrisch erlebten in Ost und West die Wiedervereinigung Deutschlands und
gaben mit ihren für das Kulturprogramm Deutscher Pavillon geschaffenen
Werken einen Kommentar zur aktuellen Situation der ehemals geteilten Stadt.
Dem lautstarken, rasenden Transformationsprozeß entgegneten sie mit
unaufhaltsamer, pulsierender Stille. Musik übernahm hier die Funktion
von Zeitgenossenschaft.
- ... Heimat
am 14. Juli 2000
Uraufführungen von Komponisten aus drei Generationen standen auf
dem Programm – von Wilhelm Killmayer und Josef Anton Riedl, Wilfried Hiller,
Minas Borboudakis. Alpenländische Instrumente waren zu hören,
erweitert um Schlagzeug und Computereinsatz, mit denen sich die Komponisten
dem schillernden Begriff “Heimat” näherten. Heimat – der Ort, an dem
man zu Hause ist, von dem man aufgebrochen ist, um in die Fremde zu gehen,
und der uns zeitlebens begleitet – ist Sehnsuchtstopos und Herausforderung
zugleich. Die Werke provozierten Fragen: Wie weit sind wir in einer Tradition
verwurzelt, und wie weit wagen wir uns vor, um diese Bindung produktiv
zu nutzen.
- “Sog nischt kejnmol, as du gejst dem letztn weg ... “
am 26. Juli 2000
Das Konzert erinnerte an die erschreckende geographische Nähe
von Weimar – als Inbegriff deutscher Klassik und humanistischer Ideale
– und Buchenwald – als Synonym für die unmenschliche Vernichtung des
Humanen. Zentrale Werke von Karl Amadeus Hartmann, Olivier Messiaen, Dmitri
Schostakowitsch und Arnold Schönberg als direkte künstlerische
Reaktion auf den Terror des national-sozialistischen Regimes kamen zur
Aufführung.
- Music in Changes
am 31. August 2000
In gewisser Weise als Hommage an die “Darmstädter Ferienkurse
für Neue Musik” - nach dem 2. Weltkrieg ein wichtiges Forum für
den engagierten Versuch eines musikalischen Neuanfangs - wurde dieses Programm
mit Werken von Pierre Boulez, Earle Brown, John Cage, Karel Goeyvaerts,
Olivier Messiaen und Bernd Alois Zimmermann gestaltet. Sie verdeutlichten
die Funktion der neuen Musik als einen geistigen Ort der Geschichte, unter
anderem durch das Anliegen, nach der Erfahrung des Faschismus Willkür
und Hierarchie auch aus den kompositorischen Entscheidungen zu verbannen.
- Weill & Metamorphosen
am 15. September 2000
Ein Komponist war zu würdigen, der wie kein zweiter schon lange
vor seiner Emigration eine Affinität zur Musik Amerikas hatte, das
für ihn zur zweiten Heimat wurde. Mit seinem einzigartigen musikalischen
Idiom hatte Kurt Weill gleich mit zwei Tendenzen wesentlichen Anteil an
der Entwicklung der Neuen Musik: mit seinem gesellschaftskritischen und
politischen Engagement und mit der Integration von populären musikalischen
Formen. Das Programm konzentrierte sich im wesentlichen auf Weills Werke,
die vor seiner Emigration entstanden sind, berücksichtigte aber auch
Werke der Komponisten Heiner Goebbels und Hans Werner Henze, die sein Erbe
im weitesten Sinne fortgeführt haben.
Traditionelle musikalische Gattungen wurden in der zweiten Hälfte
des 20. Jahrhunderts neu definiert, Grenzen erweitert und überschritten:
- Ein Hauch von Unzeit
am 7. Juli 2000
Auf den Titel der auch aufgeführten Komposition von Klaus Huber
zurückgreifend erklärten die Werke von John Cage, Krzysztof Penderecki,
Peter Ruzicka und Anton Webern zu welch innovativer Kraft das Streichquartett
fähig ist, das als traditionell wichtigste Form der Kammermusik im
letzten Jahrhundert wesentliche Impulse erfahren hat. Die Auflösung
der geschlossenen Form oder der festgeschriebenen Instrumentalbesetzungen
stand für richtungs-weisende Veränderungen in der musikalischen
Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Und dass das Streichquartett auch im
beginnenden 21. Jahrhundert junge Künstler fasziniert und herausfordert,
bewiesen zwei Uraufführungen von Moritz Eggert. Stille und das Geräusch
wurden in das musikalische Material integriert.
- Mantra
am 12. Oktober 2000
Mit diesem Stück kehrte Karlheinz Stockhausen 1970 nach einer
Phase frei notierter Kompositionen zur exakten Notation zurück. „Mantra“
ist die erste der bis heute sein Schaffen prägenden “Formel-Kompositionen”,
die sich aus einem einzigen melodisch-rhythmisch-klanglichen Komplex ableitet,
und die einen Versuch der Vermittlung zwischen serieller Determination
und musikalischer Intuition, zwischen Organisation und Freiheit darstellt.
Sprache, Bewegung und Licht sind Elemente neuer musikalischer Formen,
die sich im Zwischenbereich von Musik, Theater und Literatur entfalten.
Zahlreiche diesbezügliche Werke wurden hervorgebracht, erneuerten
das musiktheatralische Verständnis, ermöglichten den Einsatz
neuer Medien, zeigten visuelle Aspekte in der Musik auf. Die Wechselwirkung
von Klang, Bild, Raum und Bewegung wurde und wird in das kompositorische
Denken miteinbezogen:
- Aventures
am 20. Juli 2000
Schlüsselwerke der neuen Musik von György Ligeti, Mauricio
Kagel und Bernd Alois Zimmermann, die alle in den sechziger Jahren entstanden,
umfasste dieses Projekt. Zu erleben war Musiktheater ohne Worte, das auf
humorvolle Weise menschliche Kommunikationsmuster musikalisch darstellte.
- Klang:Bild
am 5. September 2000
Alltägliche Objekte oder künstlerische Gegenstände wurden
in den neuen Kompositionen von Friedrich Goldmann, Jörg Herchet, Knut
Müller, Steffen Schleiermacher und Volker Staub zu Klangkörpern,
europäische und außereuropäische Instrumente zusammengeführt,
die Musik in Teilaspekten visualisiert und ins Räumliche erweitert.
- Der Ort ist nicht der Ort
am 26. Oktober 2000
Einen neuen Modus der Verständigung fanden Helmut Oehring und
Iris ter Schiphorst, indem Gebärdensprache Eingang in ihre Musik gefunden
hat. Mit ihr entstanden Bilder, die verbal nur schwer zu fassen sind. Auf
überraschend plausible Weise ließ sich die Gebärdensprache
in das Medium der Klangsprache transferieren. Ein Seh- und Hörspiel
mit stetigen Ortswechseln, der Sehnsucht nach Verständlichkeit und
dem Wiederfinden in einer Umgebung, die durch Missverständnisse und
Kontinuitätsbrüche zum Unort wird, wurde als Uraufführung
vorgestellt.
Zahlreiche junge Musiker traten zum Teil mit und in Uraufführungen
im Rahmen der Reihe musik20 im August Everding Saal auf. Sie positionierten
sich selbstbewusst im Umfeld der älteren Generation, deren Werke in
der inhaltlichen und formalen Auseinandersetzung der jüngeren Generation
zur Quelle des heutigen Musikschaffens geworden sind. Mit der musik20-Festivalwoche
Im Profil waren vier Tage den international bedeutendsten deutschen Komponisten
gewidmet:
- Im Profil
Aribert Reimann
am 16. Oktober 2000
Wolfgang Rihm
am 18. Oktober 2000
Mauricio Kagel
am 20. Oktober 2000
Hans Werner Henze
am 22. Oktober 2000
Jedem von ihnen gehörte ein ganzer Tag. Bestimmte Gesichtspunkte des
jeweiligen musikalischen Schaffens standen im Zentrum der Porträts.
So lag die Konzentration bei dem Pianisten und Komponisten Aribert Reimann
auf dessen kammermusikalischem Œuvre und seinen Vokalkompositionen. Texte
von Sylvia Plath, Joseph von Eichendorff, Nicolas Born, Rainer Maria Rilke
und Sappho inspirierten den 1936 geborenen Berliner zu diesen Liedern und
Gesängen. Drei Gedichte der Sappho in der deutschen Übertragung
von Walter Jens wurden im Deutschen Pavillon uraufgeführt.
Der zweite Tag der Porträtreihe Im Profil stellte Wolfgang Rihm
in den Mittelpunkt. Vom ihm, dem sich die expressiven Klänge, die
er komponiert, förmlich anverwandeln und zum existenziellen Ausdruck
werden, waren alle Streichquartette zu hören. Wir präsentierten
eine Art Gesamtaufführung, die auch die Jugendwerke nicht ausließ.
Darin eingebunden war die Uraufführung des Werkes „Stilles Stück“
für acht Streicher und Bariton nach einem Gedicht von Hermann Lenz,
das im Auftrag des Deutschen Pavillons entstand.
Radiostücke, Filmmusik, Raumklang-Performance, “instrumentales
Theater” – Begriffe, die fallen, wenn vom Schaffen des in Buenos Aires
geborenen und seit 1957 in Köln lebenden Künstlers Mauricio Kagel
die Rede ist. Seine medialen Verschränkungen brechen Hör- wie
Sehgewohnheiten auf und lösen Irritationen aus. Während des Mauricio
Kagel gewidmeten Tages im Deutschen Pavillon waren Stücke aus den
letzten vier Jahrzehnten und die Uraufführung der “Burleske” zu hören.
Als Referenz an Hannover, wo “Boulevard Solitude” 1952 uraufgeführt
wurde, stellte Hans Werner Henze ein Potpourri aus seiner Oper in kammermusikalischer
Besetzung zusammen, das im Deutschen Pavillon zur Uraufführung kam.
Hans Werner Henze übersiedelte 1953 aus politischen Gründen nach
Italien. Auch später hat der große Wegbereiter der zeitgenössischen
Musik politische Indifferenz stets verneint. Das ist zu hören in seinen
Werken. Hans Werner Henze gilt als Erneuerer des Musiktheaters und Initiator
einflussreicher Festivals. Sein Porträt beschloss die Reihe Im Profil.
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