Ludwig Mies wurde am 27. März 1886 als jüngstes von fünf
Kindern des Maurermeisters Michael Mies und dessen Frau Amalie Rohe in
bescheidenen Verhältnissen geboren. Später, in Berlin, gibt er
sich den etwas prätentiösen Namen „Mies van der Rohe" – seine
Freunde nennen ihn aber weiterhin alle nur "Mies" und "miesich " wird später
sogar als Synonym für die ihm eigene Eleganz und Präzision gebraucht.
1905 gelingt der Sprung nach Berlin zum Architekten Bruno Paul (1874-1968),
damals einem der bedeutendsten Möbelentwerfer, der bereits 1906 für
die Deutschen Werkstätten in Dresden die ersten maschinengerechten
Möbel entwickelt hatte. Zwei Jahre bleibt Mies bei Paul, wo er die
Grenzen und Möglichkeiten des Materials Holz im Möbelbau und
in der Konstruktion kennenlernt. Nach dem Ausscheiden 1907 erhält
Mies seinen ersten Auftrag für ein kleines Wohnhaus und führt
sich mit dem „Haus Riehl“ als sensibler, qualitätsbewusster Architekt
mit einem spürbaren Interesse an Proportionen und Details ein. Anschliessend
arbeitet er im Atelier von Peter Behrens (1868-1940), dem Begründer des Industrial
Designs, wo auch Walter Gropius (1883-1969), der Begründer des Bauhauses,
und Le Corbusier tätig sind. Peter Behrens überträgt Mies,
der von 1908 bis 1911 für ihn arbeitet, auch die Bauführung am
Neubau der Deutschen Botschaft in St. Petersburg. Nach dem Ausscheiden
bei Behrens zieht Mies 1911 nach Den Haag um, entwirft das Haus Kröller,
baut das Haus Perls in Berlin und nimmt an einem Wettbewerb für das
Bismarck-Denkmal in Bingen, teil. 1913 erfolgt die Rückkehr nach Berlin,
die Eröffnung eines eigenen Büros und die Heirat mit Ada Bruhn.
1930-33 amtiert Mies als Leiter des Bauhauses Dessau und Berlin und
wirkt als Lehrer. Um seine faszinierende Persönlichkeit hatte sich
bereits in Berlin ein Kreis von Freunden gebildet, wozu auch Philosophen
wie Alois Riehl, Nicolai Hartmann und Romano Guardini gehören. Neben
vielen Entwürfen kann Mies in den folgenden Jahren nur 1937 das Verwaltungsgebäude
der Seidenindustrie in Krefeld verwirklichen.
In Chicago, der Geburtsstätte des Wolkenkratzers, bietet sich ihm
die Möglichkeit, sein Werk nicht nur fortzusetzen, sondern in neuen
Dimensionen zu eroben und weiter zu entwicklen. Alleine schon vom schieren
Bauvolumen her sind die Aufgaben, die sich Mies, verglichen mit Europa,
stellen, gigantisch. Mies hatte sich bereits 1919 mit Wolkenkratzerprojekten
nach dem Skelettbauprinzip beschäftigt. Sein ästhetisches Ziel
ist die Sichtbarmachung des Skeletts und die Trennung der Verkleidung („skin“).
Die ersten, ringsum verglasten freistehenden Häuser, die auf der Basis
einer reinen Skelettbauweise entstehen, sind die Lake Shore Drive Apartments
in Chicago, 1948-1951.
Von Anfang an war die Tätigkeit MRs in Deutschland durch seine
Ablehnung älterer Stilarten und der Suche nach Konstruktionen charakterisiert,
die dem Baustoff deutlich und sichtbar das Gefüge geben sollten, dass
dem Zweck des Bauwerks und dem Baustoff selbst gemäss ist. Etliche
Projekte dieser frühen Zeit waren in ihrer Kompromisslosigkeit zu
kühn und wurden nicht verwirklicht. MR konzentrierte sich auf die
charakteristischen Eigenschaften des Baumaterials –z.b. wahren beim Backsteinhaus
alle Wände bis ins kleinste Detail den Charakter des Bausteins. Immer
geht es um die Entfaltung der Struktur der Konstruktionsmöglichkeiten,
nie um die beliebige Form. Der Gedanke, dass Konstruktion die notwendige
Grundlage der neuen Baukunst zu sein hat, war bereits der Beginn einer
neuen Bewegung, die Viollet-Le-Duc in seinen 1860 erschienenen "Entretiens
sur l'Architecture" angestoßen hatte. Für ihn war bereits die
künstlerische Form das Ergebnis einer geordneten Struktur. „... dieser
Wille, sich nur auf klare Struktur zu beschränken, ist nicht nur eine
Begrenzung, sondern auch eine grosse Hilfe. Struktur ist ein konstruierter
Zusammenhang, eine sinnvoll in allen Einzelheiten durchdachte konstruktive
Gestalt.“
Erst nach dem 1. Weltkrieg, während der 20er Jahre, wird es für
MR immer deutlicher, wie sehr die technische Entwicklung als „zivilisatorische
Kraft“ viele Seiten unseres Lebens zu beeinflussen beginnt. Auf dem Gebiet
des Bauens liefert die sich entfaltende Technik neue Materialien und praktischere
Arbeitsmethoden, die oft in scharfem Gegensatz zur hergebrachten Auffassung
von Baukunst stehen. Trotzdem glaubt er an die Möglichkeit, mit diesen
Mitteln eine Baukunst zu entwickeln. Er entwickelt in einem langen Reifeprozess
die Struktur des jeweiligen Bauwerks, zerlegt es in Detailskizzen und prüft
jedes Element bezüglich Proportion, Materialwirkung und Konstruktion
am konkreten Modell. Er fühlt, dass es möglich sein müsse,
alte und neue Kräfte in unserer Zivilisation in Harmonie zu bringen.
"Jede meiner Bauten war eine Demonstration dieses Gedankens und ein Schritt
in dem Prozess meines eigenen Strebens nach Klarheit“ MR ist mehr denn
je davon überzeugt, dass diese neuen Wissenschaften und technischen
Entwicklungen die eigentlichen Voraussetzungen für eine Baukunst unserer
Zeit sind. "Heute, wie seit langem, glaube ich, dass Baukunst wenig oder
nichts mit der Erfindung interessanter Formen noch mit persönlichen
Neigungen Wahre Baukunst ist immer objektiv und ist Ausdruck der inneren
Struktur der Epoche aus der sie erwächst."
Die überlegene Beherrschung der "Skelettbauweise" in Stahl und
Glas gestattet MR ein souveränes Spiel mit der rhythmischen Gliederung
der Fassadenelemente und bei der Verwendung der Materialien – nach der
Ausarbeitung einer klaren, konsequent modularen Struktur erfolgt die Verfeinerung
-, wie am Beispiel des Seagram-Verwaltungsgebäudes in New York, 1954-1958,
zu sehen ist, wo ein bronziertes Rahmenwerk und getöntes Glas als
Füllelement den hochstrebenden Bau in wirkungsvollen Kontrast zur
Umgebung setzen. Aus dem Wohnhaus in Stahl und Glas entwickelt sich nun
ein Bürotyp, der auf der ganzen Welt Schule macht. Auch die niedrigen
Bürobauten für das Friedrich Krupp-Verwaltungsgebäude "Auf
dem Hügel" in Essen, einem nicht realisierten Projekt aus den Jahren
1960-1963, und das Bacardi-Verwaltungsgebäude, 1958-196? in Mexiko
City, zeichnen sich durch eine bis ins einzelne Detail sichtbar gemachte
Ordnung und Gesetzmäßigkeit aus. Hier gestalten zeitlos gültige
Bauten den Geist ihrer Epoche durch letzte Ausschöpfung der jeweiligen
Möglichkeiten von Material und Bauweise.
Was für ein Hochhaus gilt, gilt auch für einen Stuhl: der
Gestaltungsprozess beider führt über die Technologie. Auch die
von Mies in den 30er Jahren entwickelten Sitzmöbel sind zeitlose Musterbeispiele
für ein Höchstmass ästhetischer und technischer Organisation.
Der aus dünnwandigem Präzisionsrohr hergestellte hinterbeinlose
MR-Stuhl von 1927, ein durch seine ungewöhnliche Form freischwebender,
entspannender Sitz, wirkt noch heute wie am ersten Tag.
"Baukunst", sagt Mies, "ist raumgefasster Zeitwille. Lebendig. Wechselnd.
Neu. Nicht das Gestern, nicht das Morgen, nur das Heute ist formbar. Nur
dieses Bauen gestaltet!" Sein höchstes Ziel waren Ordnung und Wahrheit
und eine, dem Menschen dienende, zweckmäßige Schönheit.
1969 stirbt der bedeutendste deutsche Architekt der Moderne, den die Amerikaner
längst als „american architect“ bezeichnen.
© BPA/Richard von Schirach
In Aachen, wo sein Vater als Maurer und Steinmetz arbeitet, besucht
Mies 1899-1901 die Dom- und Gewerbeschule und absolviert eine Lehre als
Maurer. Aachen hieß für MR grundlegende Erfahrungen mit handwerklicher
Tradition, Gefühl für Stein und Werkstoff. 1901-1904 ist er bei
einer Firma für Innendekoration angestellt und fertigt Entwürfe
für Stuckornamente an; der geschickte Zeichner kann bald die kompliziertesten
Kartuschen zeichnen, ohne aufs Papier zu sehen. Ein Jahr später arbeitet
er als Zeichner in einem Aachener Architekturbüro. „Ich hatte keine
konventionelle Architekturausbildung. Ich arbeitete unter ein paar guten
Architekten, ich las ein paar gute Bücher - und das war’s auch schon“,
sagt er später. Allerdings bleiben auch die Bauwerke Aachens nicht
ohne Einfluss. Mies, der als Messdiener täglich die Messe im Münster
besuchen muss, bewahrt nicht nur an die karolingischen Bauten eine bleibende
Erinnerung. „ ...ich war von der Kraft dieser Bauten beeindruckt ... sie
waren schon mehr als 1000 Jahre da und immer noch eindrucksvoll und nichts
konnte das ändern.“
Den 1. Weltkrieg verbringt er, eingezogen zum Baukorps, mit der Überwachung
von Strassen- und Brückenbauten in Rumänien und auf dem Balkan.
Kurz nach dem Ende des Weltkriegs entstehen seine wegweisenden Frühwerke,
wie zwei innerstädtische Glashochhäuser, ein Projekt für
ein Wohnhaus in Backstein, ein Bürohaus aus Eisenbeton und Hochhaus
in Glas. Realisiert wurden allerdings nur verschiedene repräsentative
Wohnhäuser in Backstein und die Ausführung eines Denkmals (1926)
für die ermordeten Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa
Luxemburg - ebenfalls in Backstein. 1923 veröffentlicht Mies, zusammen
mit Hans Richter, die Zeitschrift G. 1926 trennt sich Mies van der Rohe
von seiner Ehefrau Ada Bruhn, mit der er drei Töchter hat, ohne die
Ehe jedoch juristisch aufzulösen. Ein Jahr später beginnt seine
berufliche und private Beziehung mit Lilly Reich, die erst mit ihrem Tod
1947 enden wird.
1927 wird er Leiter der Werkbundausstellung (Weißenhofsiedlung).
Die Aufgabe für die Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg in
Stuttgart einen Bebauungsplan zu entwerfen, nahm Mies zum Anlass, führende
Architekten aus dem In- und Ausland einzuladen, um ein „wegweisendes“ Wohnhaus
zu bauen. Durch den Auftrag für den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung
in Barcelona 1928-1929 und das “Haus Tugendhat“ 1928-1930 in Brünn,
dem bedeutendsten Bau eines Privathauses, das Mies in Europa hinterlassen
hat, war er gezwungen, sich intensiver mit der Gestaltung des Innenraums
und der Möbel zu beschäftigen. Es folgen Hofhausprojekte, z.B.
in Berlin 1931 ein "Haus auf der Berliner Bauausstellung", ausgestattet
mit MR-Möbeln, die in Zusammenarbeit mit Lilly Reich entstanden sind
oder das "Haus mit 3 Höfen", ein Projekt aus dem Jahr 1934.
1938 wandert Mies nach Amerika aus, nachdem er schon seit der am 10.
August 1933 verfügten Auflösung des Bauhauses keine sinnvolle
weitere Tätigkeit mehr in Deutschland sieht und wird im gleichen Jahr
Direktor der Architekturabteilung am Armour (später Illinois) Institute
of Technology in Chicago. Er erhält kurz darauf auch den Auftrag,
den gesamten Hochschulkomplex zu planen und zu bauen. Mies findet einen
Kreis von Studenten und Mitarbeitern, mit denen er Bauen als gemeinsame
künstlerische Aufgabe der Architekten seiner Zeit demonstrieren kann.
Er prägt so eine neue Generation von Architekten mit seinen Ideen
und wirkt auf das Sehen und Gestalten der Avantgarde der amerikanischen
Architektengeneration und des Wohndesigns ein. Er lehrt sie, alles auf
das Wesentliche zu reduzieren - „less is more“ - , und sein Wirken führt
zunächst in Chicago und später in den USA, zu einem bedeutenden
Beitrag zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
.
MR spricht davon, dass seine bewusste Laufbahn um 1910 begann, zu einer
Zeit, als der Jugendstil und die "Art nouveau"-Bewegung vorüber waren.
Damals standen alle repräsentativen Bauten mehr oder weniger unter
dem Einfluss von Palladio und Schinkel 1781-1841. Die großen Leistungen
dieser Zeit sind aber für ihn unter den Industriebauten und den reinen
Technikbauten zu finden. "Es war eigentlich eine verworrene Zeit, und niemand
konnte und wollte die Frage nach der Baukunst beantworten. Vielleicht war
diese Zeit noch nicht reif für eine Antwort. Immerhin, ich warf diese
Frage auf und war entschlossen, eine Antwort zu finden."
Von Anfang an sind MRs Entwürfe anschauliche und kompromisslose
Zeugnisse der Idee, dass „Tragwerk“, also Konstruktion und Verkleidung
radikal getrennt werden müssen. Im Barcelona Pavillon 1929 wird dann
die Struktur zum vollendeten Kunstwerk erhoben und als Teil einer inneren
Harmonie erfahren. Für Mies ist Baukunst eine "eigene strukturierte
Ordnung ... weder dem Tag noch der Ewigkeit verpflichtet, sondern(den treibenden
Kräften) der Epoche..“
Eine subtile Tiefenwirkung auf Mies und viele europäische Architekten
übt schon nach der Jahrhundertwende das Werk des amerikanischen Architekten
Frank Lloyd Wrights (1867-1959) aus. „Hier endlich war echte organische
Architektur. Je mehr wir uns in diese Werke vertieften, desto größer
wurde unsere Bewunderung für dieses unvergleichliche Talent, die Kühnheit
seiner Konzeption und die Eigenständigkeit seiner Gedanken und Taten.
Die dynamischen Impulse, die von diesem Werk ausgingen, belebten eine ganze
Nation.“
Eine massivere ((unmittelbarere?)) Abkehr vom Neoklassizismus bewirkt
der „grossartige Eindruck“, den die Amsterdamer Börse des niederländischen
Architekten und Ästhetikphilosophen Hendrik Petrus Berlage (1865-1934)
und „seine sorgfältige Konstruktion, ehrlich bis auf die Knochen ...,“
auf ihn macht.
„Nach Berlage habe ich einen innerlichen Kampf mit mir ausgefochten,
um von dem Schinkelschen Klassizismus loszukommen.“
Neben verschiedenen Plänen für Bauten in der Bundesrepublik,
die nicht realisiert wurden, wie z.B. das Nationaltheater Mannheim (1953),
sind an Mies van der Rohe Bauten die Neue Nationalgalerie in Berlin, 1962-1968
und das Gebäude der Commerzbank in Frankfurt, 1968, zu nennen. Ebenfalls
in seinen späten Jahren baut MR 1967-1970 in Chicago das 48-stöckige
IBM Building, seinen letzten Bürobau und einen der größten
städtebaulichen Komplexe, die MR je bearbeitete. Sein Denken hat auch
Einfluss auf den Städtebau, wie z.B. durch den Lafayette Park, 1955-1963
in Michigan und bedeutende Hallenkonstruktionen und Musiksäle.
Dies gilt auch für den "Barcelona"-Stuhl, den Mies, neben anderem
Mobiliar, für den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona
entwickelt oder den „Tugendhaft“-Stuhl, in dem man leicht und elegant sitzt.
Erstmals finden sich die von MR und Lilly Reich entwickelten Stühle,
1932 im Thonet-Katalog und seit siebzig Jahren gehören die freischwingenden
Stahlrohrstühle mit der durchgehenden Sitz- und Rückenfläche
zu den schönsten zeitlosen Schöpfungen unseres Jahrhunderts.
(1946 entwickelt Mies Ideen für gegossene Stühle aus Kunststoff
– und versucht auch hier, den Begriff der Struktur an verschiedenen Beispielen
neu zu erproben).