Ludwig Mies van der Rohe
* 27. März 1886 Aachen + 17. August 1969 Chicago

Ich glaube, dass der Einfluss,
den mein Werk auf andere Leute hat,
auf dessen Vernünftigkeit beruht.

Ludwig Mies wurde am 27. März 1886 als jüngstes von fünf Kindern des Maurermeisters Michael Mies und dessen Frau Amalie Rohe in bescheidenen Verhältnissen geboren. Später, in Berlin, gibt er sich den etwas prätentiösen Namen „Mies van der Rohe" – seine Freunde nennen ihn aber weiterhin alle nur "Mies" und "miesich " wird später sogar als Synonym für die ihm eigene Eleganz und Präzision gebraucht.
In Aachen, wo sein Vater als Maurer und Steinmetz arbeitet, besucht Mies 1899-1901 die Dom- und Gewerbeschule und absolviert eine Lehre als Maurer. Aachen hieß für MR grundlegende Erfahrungen mit handwerklicher Tradition, Gefühl für Stein und Werkstoff. 1901-1904 ist er bei einer Firma für Innendekoration angestellt und fertigt Entwürfe für Stuckornamente an; der geschickte Zeichner kann bald die kompliziertesten Kartuschen zeichnen, ohne aufs Papier zu sehen. Ein Jahr später arbeitet er als Zeichner in einem Aachener Architekturbüro. „Ich hatte keine konventionelle Architekturausbildung. Ich arbeitete unter ein paar guten Architekten, ich las ein paar gute Bücher - und das war’s auch schon“, sagt er später. Allerdings bleiben auch die Bauwerke Aachens nicht ohne Einfluss. Mies, der als Messdiener täglich die Messe im Münster besuchen muss, bewahrt nicht nur an die karolingischen Bauten eine bleibende Erinnerung. „ ...ich war von der Kraft dieser Bauten beeindruckt ... sie waren schon mehr als 1000 Jahre da und immer noch eindrucksvoll und nichts konnte das ändern.“

1905 gelingt der Sprung nach Berlin zum Architekten Bruno Paul (1874-1968), damals einem der bedeutendsten Möbelentwerfer, der bereits 1906 für die Deutschen Werkstätten in Dresden die ersten maschinengerechten Möbel entwickelt hatte. Zwei Jahre bleibt Mies bei Paul, wo er die Grenzen und Möglichkeiten des Materials Holz im Möbelbau und in der Konstruktion kennenlernt. Nach dem Ausscheiden 1907 erhält Mies seinen ersten Auftrag für ein kleines Wohnhaus und führt sich mit dem „Haus Riehl“ als sensibler, qualitätsbewusster Architekt mit einem spürbaren Interesse an Proportionen und Details ein. Anschliessend arbeitet er im Atelier von Peter Behrens (1868-1940), dem Begründer des Industrial Designs, wo auch Walter Gropius (1883-1969), der Begründer des Bauhauses, und Le Corbusier tätig sind. Peter Behrens überträgt Mies, der von 1908 bis 1911 für ihn arbeitet, auch die Bauführung am Neubau der Deutschen Botschaft in St. Petersburg. Nach dem Ausscheiden bei Behrens zieht Mies 1911 nach Den Haag um, entwirft das Haus Kröller, baut das Haus Perls in Berlin und nimmt an einem Wettbewerb für das Bismarck-Denkmal in Bingen, teil. 1913 erfolgt die Rückkehr nach Berlin, die Eröffnung eines eigenen Büros und die Heirat mit Ada Bruhn.
Den 1. Weltkrieg verbringt er, eingezogen zum Baukorps, mit der Überwachung von Strassen- und Brückenbauten in Rumänien und auf dem Balkan.
Kurz nach dem Ende des Weltkriegs entstehen seine wegweisenden Frühwerke, wie zwei innerstädtische Glashochhäuser, ein Projekt für ein Wohnhaus in Backstein, ein Bürohaus aus Eisenbeton und Hochhaus in Glas. Realisiert wurden allerdings nur verschiedene repräsentative Wohnhäuser in Backstein und die Ausführung eines Denkmals (1926) für die ermordeten Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - ebenfalls in Backstein. 1923 veröffentlicht Mies, zusammen mit Hans Richter, die Zeitschrift G. 1926 trennt sich Mies van der Rohe von seiner Ehefrau Ada Bruhn, mit der er drei Töchter hat, ohne die Ehe jedoch juristisch aufzulösen. Ein Jahr später beginnt seine berufliche und private Beziehung mit Lilly Reich, die erst mit ihrem Tod 1947 enden wird.
1927 wird er Leiter der Werkbundausstellung (Weißenhofsiedlung). Die Aufgabe für die Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg in Stuttgart einen Bebauungsplan zu entwerfen, nahm Mies zum Anlass, führende Architekten aus dem In- und Ausland einzuladen, um ein „wegweisendes“ Wohnhaus zu bauen. Durch den Auftrag für den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona 1928-1929 und das “Haus Tugendhat“ 1928-1930 in Brünn, dem bedeutendsten Bau eines Privathauses, das Mies in Europa hinterlassen hat, war er gezwungen, sich intensiver mit der Gestaltung des Innenraums und der Möbel zu beschäftigen. Es folgen Hofhausprojekte, z.B. in Berlin 1931 ein "Haus auf der Berliner Bauausstellung", ausgestattet mit MR-Möbeln, die in Zusammenarbeit mit Lilly Reich entstanden sind oder das "Haus mit 3 Höfen", ein Projekt aus dem Jahr 1934.

1930-33 amtiert Mies als Leiter des Bauhauses Dessau und Berlin und wirkt als Lehrer. Um seine faszinierende Persönlichkeit hatte sich bereits in Berlin ein Kreis von Freunden gebildet, wozu auch Philosophen wie Alois Riehl, Nicolai Hartmann und Romano Guardini gehören. Neben vielen Entwürfen kann Mies in den folgenden Jahren nur 1937 das Verwaltungsgebäude der Seidenindustrie in Krefeld verwirklichen.
1938 wandert Mies nach Amerika aus, nachdem er schon seit der am 10. August 1933 verfügten Auflösung des Bauhauses keine sinnvolle weitere Tätigkeit mehr in Deutschland sieht und wird im gleichen Jahr Direktor der Architekturabteilung am Armour (später Illinois) Institute of Technology in Chicago. Er erhält kurz darauf auch den Auftrag, den gesamten Hochschulkomplex zu planen und zu bauen. Mies findet einen Kreis von Studenten und Mitarbeitern, mit denen er Bauen als gemeinsame künstlerische Aufgabe der Architekten seiner Zeit demonstrieren kann. Er prägt so eine neue Generation von Architekten mit seinen Ideen und wirkt auf das Sehen und Gestalten der Avantgarde der amerikanischen Architektengeneration und des Wohndesigns ein. Er lehrt sie, alles auf das Wesentliche zu reduzieren - „less is more“ - , und sein Wirken führt zunächst in Chicago und später in den USA, zu einem bedeutenden Beitrag zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

In Chicago, der Geburtsstätte des Wolkenkratzers, bietet sich ihm die Möglichkeit, sein Werk nicht nur fortzusetzen, sondern in neuen Dimensionen zu eroben und weiter zu entwicklen. Alleine schon vom schieren Bauvolumen her sind die Aufgaben, die sich Mies, verglichen mit Europa, stellen, gigantisch. Mies hatte sich bereits 1919 mit Wolkenkratzerprojekten nach dem Skelettbauprinzip beschäftigt. Sein ästhetisches Ziel ist die Sichtbarmachung des Skeletts und die Trennung der Verkleidung („skin“). Die ersten, ringsum verglasten freistehenden Häuser, die auf der Basis einer reinen Skelettbauweise entstehen, sind die Lake Shore Drive Apartments in Chicago, 1948-1951.
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MR spricht davon, dass seine bewusste Laufbahn um 1910 begann, zu einer Zeit, als der Jugendstil und die "Art nouveau"-Bewegung vorüber waren. Damals standen alle repräsentativen Bauten mehr oder weniger unter dem Einfluss von Palladio und Schinkel 1781-1841. Die großen Leistungen dieser Zeit sind aber für ihn unter den Industriebauten und den reinen Technikbauten zu finden. "Es war eigentlich eine verworrene Zeit, und niemand konnte und wollte die Frage nach der Baukunst beantworten. Vielleicht war diese Zeit noch nicht reif für eine Antwort. Immerhin, ich warf diese Frage auf und war entschlossen, eine Antwort zu finden."

Von Anfang an war die Tätigkeit MRs in Deutschland durch seine Ablehnung älterer Stilarten und der Suche nach Konstruktionen charakterisiert, die dem Baustoff deutlich und sichtbar das Gefüge geben sollten, dass dem Zweck des Bauwerks und dem Baustoff selbst gemäss ist. Etliche Projekte dieser frühen Zeit waren in ihrer Kompromisslosigkeit zu kühn und wurden nicht verwirklicht. MR konzentrierte sich auf die charakteristischen Eigenschaften des Baumaterials –z.b. wahren beim Backsteinhaus alle Wände bis ins kleinste Detail den Charakter des Bausteins. Immer geht es um die Entfaltung der Struktur der Konstruktionsmöglichkeiten, nie um die beliebige Form. Der Gedanke, dass Konstruktion die notwendige Grundlage der neuen Baukunst zu sein hat, war bereits der Beginn einer neuen Bewegung, die Viollet-Le-Duc in seinen 1860 erschienenen "Entretiens sur l'Architecture" angestoßen hatte. Für ihn war bereits die künstlerische Form das Ergebnis einer geordneten Struktur. „... dieser Wille, sich nur auf klare Struktur zu beschränken, ist nicht nur eine Begrenzung, sondern auch eine grosse Hilfe. Struktur ist ein konstruierter Zusammenhang, eine sinnvoll in allen Einzelheiten durchdachte konstruktive Gestalt.“
Von Anfang an sind MRs Entwürfe anschauliche und kompromisslose Zeugnisse der Idee, dass „Tragwerk“, also Konstruktion und Verkleidung radikal getrennt werden müssen. Im Barcelona Pavillon 1929 wird dann die Struktur zum vollendeten Kunstwerk erhoben und als Teil einer inneren Harmonie erfahren. Für Mies ist Baukunst eine "eigene strukturierte Ordnung ... weder dem Tag noch der Ewigkeit verpflichtet, sondern(den treibenden Kräften) der Epoche..“

Erst nach dem 1. Weltkrieg, während der 20er Jahre, wird es für MR immer deutlicher, wie sehr die technische Entwicklung als „zivilisatorische Kraft“ viele Seiten unseres Lebens zu beeinflussen beginnt. Auf dem Gebiet des Bauens liefert die sich entfaltende Technik neue Materialien und praktischere Arbeitsmethoden, die oft in scharfem Gegensatz zur hergebrachten Auffassung von Baukunst stehen. Trotzdem glaubt er an die Möglichkeit, mit diesen Mitteln eine Baukunst zu entwickeln. Er entwickelt in einem langen Reifeprozess die Struktur des jeweiligen Bauwerks, zerlegt es in Detailskizzen und prüft jedes Element bezüglich Proportion, Materialwirkung und Konstruktion am konkreten Modell. Er fühlt, dass es möglich sein müsse, alte und neue Kräfte in unserer Zivilisation in Harmonie zu bringen. "Jede meiner Bauten war eine Demonstration dieses Gedankens und ein Schritt in dem Prozess meines eigenen Strebens nach Klarheit“ MR ist mehr denn je davon überzeugt, dass diese neuen Wissenschaften und technischen Entwicklungen die eigentlichen Voraussetzungen für eine Baukunst unserer Zeit sind. "Heute, wie seit langem, glaube ich, dass Baukunst wenig oder nichts mit der Erfindung interessanter Formen noch mit persönlichen Neigungen Wahre Baukunst ist immer objektiv und ist Ausdruck der inneren Struktur der Epoche aus der sie erwächst."
Eine subtile Tiefenwirkung auf Mies und viele europäische Architekten übt schon nach der Jahrhundertwende das Werk des amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wrights (1867-1959) aus. „Hier endlich war echte organische Architektur. Je mehr wir uns in diese Werke vertieften, desto größer wurde unsere Bewunderung für dieses unvergleichliche Talent, die Kühnheit seiner Konzeption und die Eigenständigkeit seiner Gedanken und Taten. Die dynamischen Impulse, die von diesem Werk ausgingen, belebten eine ganze Nation.“
Eine massivere ((unmittelbarere?)) Abkehr vom Neoklassizismus bewirkt der „grossartige Eindruck“, den die Amsterdamer Börse des niederländischen Architekten und Ästhetikphilosophen Hendrik Petrus Berlage (1865-1934) und „seine sorgfältige Konstruktion, ehrlich bis auf die Knochen ...,“ auf ihn macht.
„Nach Berlage habe ich einen innerlichen Kampf mit mir ausgefochten, um von dem Schinkelschen Klassizismus loszukommen.“

Die überlegene Beherrschung der "Skelettbauweise" in Stahl und Glas gestattet MR ein souveränes Spiel mit der rhythmischen Gliederung der Fassadenelemente und bei der Verwendung der Materialien – nach der Ausarbeitung einer klaren, konsequent modularen Struktur erfolgt die Verfeinerung -, wie am Beispiel des Seagram-Verwaltungsgebäudes in New York, 1954-1958, zu sehen ist, wo ein bronziertes Rahmenwerk und getöntes Glas als Füllelement den hochstrebenden Bau in wirkungsvollen Kontrast zur Umgebung setzen. Aus dem Wohnhaus in Stahl und Glas entwickelt sich nun ein Bürotyp, der auf der ganzen Welt Schule macht. Auch die niedrigen Bürobauten für das Friedrich Krupp-Verwaltungsgebäude "Auf dem Hügel" in Essen, einem nicht realisierten Projekt aus den Jahren 1960-1963, und das Bacardi-Verwaltungsgebäude, 1958-196? in Mexiko City, zeichnen sich durch eine bis ins einzelne Detail sichtbar gemachte Ordnung und Gesetzmäßigkeit aus. Hier gestalten zeitlos gültige Bauten den Geist ihrer Epoche durch letzte Ausschöpfung der jeweiligen Möglichkeiten von Material und Bauweise.
Neben verschiedenen Plänen für Bauten in der Bundesrepublik, die nicht realisiert wurden, wie z.B. das Nationaltheater Mannheim (1953), sind an Mies van der Rohe Bauten die Neue Nationalgalerie in Berlin, 1962-1968 und das Gebäude der Commerzbank in Frankfurt, 1968, zu nennen. Ebenfalls in seinen späten Jahren baut MR 1967-1970 in Chicago das 48-stöckige IBM Building, seinen letzten Bürobau und einen der größten städtebaulichen Komplexe, die MR je bearbeitete. Sein Denken hat auch Einfluss auf den Städtebau, wie z.B. durch den Lafayette Park, 1955-1963 in Michigan und bedeutende Hallenkonstruktionen und Musiksäle.

Was für ein Hochhaus gilt, gilt auch für einen Stuhl: der Gestaltungsprozess beider führt über die Technologie. Auch die von Mies in den 30er Jahren entwickelten Sitzmöbel sind zeitlose Musterbeispiele für ein Höchstmass ästhetischer und technischer Organisation. Der aus dünnwandigem Präzisionsrohr hergestellte hinterbeinlose MR-Stuhl von 1927, ein durch seine ungewöhnliche Form freischwebender, entspannender Sitz, wirkt noch heute wie am ersten Tag.
Dies gilt auch für den "Barcelona"-Stuhl, den Mies, neben anderem Mobiliar, für den Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona entwickelt oder den „Tugendhaft“-Stuhl, in dem man leicht und elegant sitzt. Erstmals finden sich die von MR und Lilly Reich entwickelten Stühle, 1932 im Thonet-Katalog und seit siebzig Jahren gehören die freischwingenden Stahlrohrstühle mit der durchgehenden Sitz- und Rückenfläche zu den schönsten zeitlosen Schöpfungen unseres Jahrhunderts.
(1946 entwickelt Mies Ideen für gegossene Stühle aus Kunststoff – und versucht auch hier, den Begriff der Struktur an verschiedenen Beispielen neu zu erproben).

"Baukunst", sagt Mies, "ist raumgefasster Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu. Nicht das Gestern, nicht das Morgen, nur das Heute ist formbar. Nur dieses Bauen gestaltet!" Sein höchstes Ziel waren Ordnung und Wahrheit und eine, dem Menschen dienende, zweckmäßige Schönheit. 1969 stirbt der bedeutendste deutsche Architekt der Moderne, den die Amerikaner längst als „american architect“ bezeichnen.

© BPA/Richard von Schirach